Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2020
Mohamed Bourouissa mit dem Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2020 ausgezeichnet
Die vier Finalist*innen für den Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2020 waren Mohamed Bourouissa, Anton Kusters, Mark Neville und Clare Strand. Am Montag, den 14. September 2020, wurde Mohamed Bourouissa mit dem renommierten und 30.000 britischen Pfund dotierten Preis ausgezeichnet. Die Bekanntgabe erfolgte im Rahmen einer Online-Präsentation durch die Photographers’ Gallery in London.
Die Finalist*innen des Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2020
Die vier Projekte reichen von einem Experiment um Bildproduktion, Übertragung und Interpretation (Strand) über das fotografische Porträt einer ländlichen Gemeinde in der Bretagne (Neville), einer konzeptuellen Antwort auf Gewalt, Trauma und Erinnerung (Kusters) bis hin zur kritischen Hinterfragung von Konsum, Handel und Entmündigung (Bourouissa). Die Arbeiten decken dabei sehr unterschiedliche Herangehensweisen an die Fotografie ab und demonstrieren gleichzeitig die Fähigkeit des Mediums, ein breites Spektrum von Praktiken und Anliegen aufzunehmen und gestalterisch zum Ausdruck zu bringen.
Die Projekte, für die die Künstler*innen nominiert wurden, waren 0in der Photographers' Gallery London zu sehen.
Jury
Die diesjährige Jury setzt sich zusammen aus: Martin Barnes, Kurator für Fotografie, Victoria and Albert Museum, London, Großbritannien; Melanie Manchot, Künstlerin und Fotografin, London, Großbritannien; Joachim Naudts, Kurator und Herausgeber, FOMU Foto Museum in Antwerpen, Belgien; Anne-Marie Beckmann, Direktorin, Deutsche Börse Photography Foundation, Frankfurt. Brett Rogers, Direktorin, The Photographers' Gallery, London, ist weiterhin Jury-Vorsitzende ohne Stimmrecht
Die Finalist*innen wurden für folgende Projekte nominiert:

Mohamed Bourouissa
Mohamed Bourouissa wurde für seine Ausstellung Free Trade (Rencontres d'Arles, Arles, Frankreich, 1. Juli–22. September 2019) nominiert.
Der algerische Künstler Mohamed Bourouissa (*1978 in Algerien) nutzt für seine Arbeiten unterschiedliche Medien wie Fotografie, Video, Malerei und Skulptur. In seinen Projekten widmet er sich oftmals der Untersuchung sozioökonomischer Prozesse sowie unsichtbarer Spannungen zwischen verschiedenen sozialen Milieus und den damit einhergehenden kulturellen Spaltungen. Die Ausstellung Free Trade bietet einen Überblick seiner Projekte aus den letzten 15 Jahren. Sie wurde im Rahmen des Festivals Rencontres d'Arles vor der ungewöhnlichen Kulisse eines Monoprix-Supermarktes präsentiert und wirft einen umfassenden Blick auf die Beziehung zwischen Individuen und den komplexen Systemen von Märkten und Kapital. Darüber hinaus reflektiert sie die historischen und sozialen Einflüsse auf die Ästhetik, von der Kunstgeschichte bis hin zur Rapkultur. Teil der Ausstellung ist Peripherique (2005-2008), eines der ersten Projekte von Bourouissa, bei er mit gängigen Stereotypen von Jugendlichen in den berüchtigten Banlieues von Paris bricht. Gezeigt wird zudem ein Projekt, das die Praxis des Zigarettenschmuggels in einer Pariser U-Bahnstation dokumentiert, sowie eine Arbeit aus Polaroid-Aufnahmen von Menschen, die beim Diebstahl von Alltagsgegenständen aus einem Supermarkt erwischt wurden. In einem späteren Projekt schafft Bourouissa mithilfe von Augmented Reality virtuelle Skulpturen, um das vergessene und gesichtslose ‚Heer von Arbeitslosen' darzustellen und diesen meist unsichtbaren Teil der Gesellschaft kommerziellen Überfliegern kontrastreich gegenüberzustellen. All-In (2012) ist ein Film im Stil eines Rap-Musikvideos, unterlegt mit dem Song Fœtus des berühmten französischen Hip-Hop-Künstlers Booba. Indem er zeigt, wie eine Münze mit dem Bild des Rappers geprägt wird, veranschaulicht der Film, wie der individuelle Erfolg in westlichen Gesellschaften an finanziellem Erfolg gemessen wird.

Anton Kusters
Anton Kusters wurde für seine Ausstellung The Blue Skies Project (Fitzrovia Chapel, London, Großbritannien, 15.–19. Mai 2019) nominiert.
Anton Kusters (geb. 1974 in Belgien) konzeptuelle Fotoprojekte setzen sich oftmals mit der Schwierigkeit auseinander, Traumata darzustellen. Er hinterfragt den Akt des Gedenkens und die Erfahrung, Erinnerungsorte in unserer zeitgenössischen Kultur zu verlieren. Kusters schlägt mit seiner Arbeit alternative Sichtweisen und Möglichkeiten vor, um das Publikum anzuregen und einzubeziehen den Prozess des Erinnerns fortzusetzen. The Blue Skies Project ist eine Installation aus 1.078 Polaroid-Bildern. Alle Bilder zeigen den aufwärts gerichteten Blick in einen blauen Himmel, aufgenommen in Europa an den jeweils letzten bekannten Standorten nationalsozialistischer Konzentrations- oder Vernichtungslager des zweiten Weltkrieges. Über einen Zeitraum von sechs Jahren hinweg recherchierte Kusters akribisch diese unterschiedlichen, oft vergessenen Orte der Gewalt und fotografierte sie mit dem einfachen analogen Sofortbildverfahren. Die so entstandenen Bilder wurden dann durch eine Blindprägung mit Zahlen versehen – der entsprechenden Opferzahl und den jeweiligen GPS-Koordinaten. Teil der Installation ist außerdem ein generatives Hörstück von Ruben Samama, welches in Klang und Länge die Zeit zwischen den Jahren 1933 und 1945 – als die Lager betrieben wurden – nachbildet. Die kontinuierliche Laufzeit des Stücks beträgt 13 Jahre. Anhand dieser künstlerischen Abstraktion eröffnet Kusters dem Publikum einen Raum, um die eigene Position in der Geschichte zu reflektieren und sich mit dem laufenden Diskurs über Menschenrechte, Trauma und Völkermord auseinanderzusetzen.

Mark Neville
Mark Neville ist für seine Publikation Parade (Centre d'Art GwinZegal, Guingamp, Frankreich, 2019) nominiert.
Die fotografische Arbeit des britischen Künstlers Mark Neville (*1966 in Großbritannien) verbindet Kunst und sozial-dokumentarische Praktiken. In seinen Projekten erforscht er die gesellschaftliche Rolle der Fotografie mit Hilfe von Stand- und Bewegt-Bildern sowie mit Fotobüchern, die sich an ein Publikum richten, welches nicht per se als kunstaffin bezeichnet werden kann. Seine Projekte zielen immer wieder darauf ab, die passive Rolle der sozialen Dokumentarfotografie aufzubrechen, um eine gesellschaftliche Debatte und damit den Wandel über die Grenzen von Kulturinstitutionen hinaus anzuregen. Nachdem Großbritannien im Jahr 2016 für den Austritt aus der EU gestimmt hatte, nahm Neville die Arbeit an einem Projekt in der bretonischen Kleinstadt Guingamp („Little Britain") auf. Im Auftrag des Centre d'Art GwinZegal hat Neville über einen Zeitraum von drei Jahren ein mehrschichtiges Porträt der landwirtschaftlichen Gemeinde in der französischen Provinz erarbeitet, in der die örtliche Fußballmannschaft und die traditionellen bretonischen Tanzfeste im Zentrum der kulturellen Aktivitäten stehen. Mit der Ausstellung der vor Ort entstandenen Werke im lokalen Fußballstadion wurde jener Teil der Bevölkerung, dessen Lebensgrundlage die Landwirtschaft ist und der zugleich die wichtigste Fangruppe der Fußballmannschaft Guingamp darstellt, sowohl zum Thema als auch zum Hauptpublikum seines Projekts. Neben den Freizeitaktivitäten der Ortsansässigen erkundete Neville auch die wirtschaftlichen Standbeine der Region. Das Ergebnis dieser Recherche sind Fotografien, in denen keine klare Grenze zwischen geplant-konstruierter Fotografie und spontanen Bildern erkennbar ist. Die Aufnahmen sind in den unterschiedlichsten Agrarunternehmen der Region entstanden, die von kleinen nachhaltig betriebenen Höfen mit wenigen Tieren bis hin zu großen landwirtschaftlichen Betrieben reichen. In der zweiten Ausgabe von Parade werden die Fotografien von Essays begleitet, die von bretonischen Landwirten verfasst wurden. In ihren Texten plädieren sie für eine nachhaltigere, humanere „ökotopische" Landwirtschaft. Das Buch wird an politische Entscheidungsträger*innen in europäischen Landwirtschafts- und Lebensmittelministerien weltweit verschickt.

Clare Strand
Clare Strand ist für die Ausstellung The Discrete Channel with Noise (PHotoESPAÑA, Madrid, Spanien, 5.–21. Juni 2019) nominiert.
Clare Strand (*1973 in Großbritannien) arbeitet in verschiedenen künstlerischen Disziplinen, die von der Fotografie und webbasierten Programmen über die Malerei, kinetische Maschinen bis hin zu Skulptur reichen. Wiederkehrende Themen in ihren Werken sind unterschiedliche Kommunikationsmethoden und das Scheitern ebendieser oder die absichtliche oder zufällige Fehlinterpretation von Informationen. The Discrete Channel with Noise ist inspiriert von George H. Eckhardts Publikation Electronic Television (1936), einem frühen Übertragungsversuch von Bildern per Telegrafie. Für das Projekt bat Strand (als Informationsempfängerin), die zu der Zeit einen Forschungsaufenthalt in Paris absolvierte, ihren Mann (den Informationssender) in Großbritannien, zehn Bilder aus ihrem Foto-Archiv auszuwählen und sie ihr telefonisch unter Verwendung eines vereinbarten Zahlencodes zu übermitteln. Über die Bilder wurde dann ein einheitliches Raster von Quadraten auf das Originalbild gelegt, wobei jedem Quadrat eine Zahl zwischen 1 und 10 und diesen wiederum jeweils ein Grauton zugeordnet war. Nach dem Empfang verwendete Strand eine großformatige Version des gleichen Rasters, um das Bild malerisch auf Papier zu übertragen (unter Verwendung von Farben im entsprechenden Grauton). Die daraus entstandene Wiedergabe beziehungsweise Neuschöpfung des Originalbildes hält ihr Ringen mit der Interpretation von Informationen fest. Zudem untersucht das Projekt, wie wir visuelle Informationen wahrnehmen, kodieren und kategorisieren, insbesondere im digitalen Zeitalter. Letztendlich wirft es Fragen nach Übersetzung, Interpretation, Wahrnehmung und nach dem Recht am geistigen Eigentum auf.