Alejandro Cartagena
Der Preis des Wachstums
Im Jahr 2008 wählte die mexikanische Regierung das Stadtgebiet von Monterrey für eine große Investition aus: Sie vergab, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, insgesamt 497.000 Kredite für den Kauf von Neubauten an die Bevölkerung. Die damit verbundenen ökologischen, gesellschaftlichen und sozialen Folgen für diese Gegend beschäftigen den in Monterrey aufgewachsenen Fotografen Alejandro Cartagena in seinen Arbeiten auf vielfältige Weise.
In seiner Serie „Suburbia Mexicana“ dokumentiert er die rasante bauliche und wirtschaftliche Entwicklung im Norden Mexikos. In poetischen Kompositionen veranschaulichen seine Aufnahmen die in der zuvor unberührten Landschaft vorgenommen Eingriffe, die nicht zuletzt der Sehnsucht nach einem meist unerreichbaren westlichen Lebensstandard und -stil geschuldet sind: Aufgereiht wie Perlen an langen Schnüren stehen die kleinen weißen Häuser deplatziert am Fuße eines majestätischen Berges. Diese neuen Eigenheime erschienen mexikanischen Familien wie der verheißungsvolle Traum von einem Vorstadtleben, wie es in den USA der 1960er Jahre beworben wurde. Für die meisten – so auch für Mitglieder von Cartagenas Familie – sah die Realität jedoch anders aus. Die neuen Eigentümer*innen kämpften mit bürokratischen Hürden, Überschuldung, miserabler Bausubstanz und Umweltschäden.
Die mit der rapiden Expansion des Ballungsraums verbundenen Herausforderungen für die lokale Bevölkerung thematisiert Cartagena auch in seiner Serie „Carpoolers“. Sie widmet sich der Lebenssituation der vielen Arbeiter, die anreisen mussten, um die Häuser und Siedlungen zu bauen, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Cartagena fotografiert sie von einer Fußgängerbrücke über den nach Monterrey führenden Highway 85 aus. Seine Bilder zeigen unzählige verbeulte Pick-up-Trucks auf dem Weg in die Stadt und – vermutlich – zu den verschiedenen Baustellen. Von oben fällt sein Blick auf die Ladeflächen, auf denen nicht nur Baumaterial liegt, sondern vor allem Männer in Arbeitskleidung zu sehen sind. Manche haben es sich – so gut es eben ging – dort bequem gemacht oder sind eingeschlafen, andere sitzen zu sechst oder mehr auf der Fläche, eingepfercht zwischen Leitern und Eimern. Die meisten von ihnen scheinen sich trotz ihrer Exponiertheit unbeobachtet zu fühlen und bemerken Cartagenas Blick durch die Kamera nicht. Die sich wiederholende Perspektive der Serie lässt beim Betrachten der Motive Raum für die Konzentration auf kleine Details, auf die Arbeiter oder ihre Kleidung.
In „Carpoolers“ werden die Auswirkungen des ungezügelten Wachstums deutlich: Die einen arbeiten für den Komfort der anderen. Sie fahren ungeschützt vor Wind und Wetter auf der Ladefläche mit, weil sie sich ein eigenes Auto oder die öffentlichen Verkehrsmittel nicht leisten können. Alejandro Cartagena erzählt in seiner Serie vom Alltag dieser Männer in den flachen Kisten. Es ist der einer Arbeiterklasse in prekären Lebensumständen, die zum Wohlstand anderer beiträgt, ohne daran teilzuhaben.
Biografische Daten
1977
geboren in der Dominikanischen Republik
2021
ist Finalist für den Deutsche Börse Photography Foundation Prize
lebt in Monterrey, Mexiko