Anders Petersen
Mitten im Kiez
Mitten in Hamburg und unweit der Landungsbrücken in Deutschlands größtem Hafen liegt das Rotlichtviertel der Stadt, dessen Hauptschlagader die legendäre Reeperbahn ist. Bis heute hat es sich seinen eigenen Charakter bewahrt und bietet in hoher Dichte die unterschiedlichsten Formen von Unterhaltung. Gleich neben dem gutbürgerlichen Restaurant befindet sich die schummrige, kleine Kneipe, und gegenüber liegt das elegante Nachtlokal, an das wiederum ein Bordell grenzt. Das Amüsierviertel der Stadt ist ein Ort für Jedermann, doch mit fortschreitender Nacht wird es mehr und mehr einer für die Menschen, die eher am Rande der Gesellschaft leben. Wer dann noch nicht nach Hause möchte oder vielleicht gar keins hat, kehrt nochmal ein in eine der Kneipen, die rund um die Uhr geöffnet haben und als Sammelbecken der Einsamen und Trinkfreudigen dienen. Zu ihnen zählte viele Jahre auch das unweit der Reeperbahn gelegene Café Lehmitz, das man trotz seinem klingenden Namen wohl eher als Spelunke bezeichnen würde.
Dorthin verschlägt es 1962 den schwedischen Fotografen Anders Petersen, der – gerade erst volljährig geworden – die berüchtigte Kneipe eher zufällig besucht. Das Lehmitz ist vor allem ein Treffpunkt für Zuhälter, Prostituierte, Obdachlose und Ganoven – ein Milieu, das den jungen Petersen fasziniert und berührt. Dort ist jede*r willkommen. Man spielt Flipper oder Darts, raucht und trinkt ausgiebig, tanzt und knutscht ungehemmt miteinander. Diese ausgelassene und intensive Atmosphäre lässt Petersen nicht mehr los, sodass er nach Abschluss seines Fotografiestudiums in Stockholm den Weg zurück nach Hamburg findet und damit auch ins Lehmitz. Ab 1968 fotografiert er drei Jahre lang die Gäste dieses besonderen Ortes und setzt ihnen und der Kneipe damit ein Denkmal. In dieser Zeit wird der Fotograf selbst Teil des Stammpublikums, verbringt einen großen Teil seiner Freizeit dort – und auch manche Nacht.
In Petersens körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen entfaltet sich das berührende und dennoch schonungslose Porträt eines vergangenen Kosmos. Er fotografiert die Menschen vom Kiez nicht wie ein Voyeur, sondern wie einer von ihnen. Wie ein unsichtbarer Beobachter kommt er den Gästen des Café Lehmitz so nahe, dass man fast das schallende Gelächter hören und den Rauch und Alkohol der nächtlichen Ausschweifungen riechen kann. Hier sind sie unter sich, ihr intimes und zugleich raues Miteinander wirkt völlig unbefangen. Ihre verlebten Gesichter verbergen trotz der ausgelassenen Fröhlichkeit nicht, dass das Schicksal es nicht unbedingt gut mit ihnen gemeint hat. Doch an diesem Ort, wo sie niemand verurteilt oder ausschließt, fühlen sie sich geborgen. Petersen gelingt es, die Atmosphäre dieses derben Milieus authentisch einzufangen, ohne seine Gegenüber vorzuführen. Sein Blick auf die verlorenen Seelen, die im Lehmitz zuhause sind, bleibt stets auf Augenhöhe und voller Empathie.
Biografische Daten
1944
geboren in Solna, Schweden
1962
besucht mit 18 Jahren erstmals Hamburg
1966/1967
studiert Fotografie bei Christer Strömholm in Stockholm
1978
veröffentlicht die „Cafè Lehmitz“ Serie bei Schirmer/Mosel
lebt in Stockholm, Schweden