Anja Niedringhaus

Ahnung des Grauens

„Wenn ich es nicht fotografiere, wird es nicht bekannt“, sagt Anja Niedringhaus. 1991 bis 2000 bereiste sie als Agenturfotografin die Krisengebiete des Balkans. Die Bilder, die sie von Tirana, Sarajevo, Mostar oder Pristina nach Deutschland schickte, wurden in der internationalen Presse, in Magazinen und Tageszeitungen veröffentlicht. Es sind Porträts. Sie zeigen verletzte Menschen, tote Menschen, trauernde Menschen, Greise und alte Mütterchen in stummer Resignation, junge Frauen, denen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben steht, Zivilisten auf der Flucht, zwischen Trümmern spielende Kinder; und dazwischen immer wieder Momente der Hoffnung und des Aufbruchs. Reportagefotografie hat immer etwas mit Menschen zu tun, und immer besitzt sie dokumentarischen Charakter. Die Fotografien von Anja Niedringhaus dokumentieren den Krieg.

Doch ungeachtet ihrer Dramatik sind diese Kriegszeugnisse mehr als eindimensionale Abbilder von Wirklichkeit. Die Kamera gibt nicht bloß das wieder, was der Fotografin vor die Linse kam. Anja Niedringhaus‘ Arbeiten folgen einem kompositorischen Willen, der über Zeitpunkt, Motiv, Perspektive und Ausschnitt entscheidet. Und Standpunkt bezieht, sonst würde sich das Bild an die Beliebigkeit des Augenblicks verlieren.

Was für ein Gesicht hat der Krieg? Wie genau wollen wir es sehen? Können wir es überhaupt ertragen? Anja Niedringhaus hat die ungeschminkte Wirklichkeit mehrere Jahre vor Augen gehabt. Ihre Fotografien aber gehen schonend mit uns um: Sie lassen uns das Grauen in Annäherungswerten erahnen und verweisen in äußerer Zerstörung auf die Verwundbarkeit des Menschen.

Biografische Daten

1965

geboren in Höxter, Westfalen

1982-90

arbeitet als unabhängige Fotografin für verschiedene Zeitungen, z.B. die Neue Westfälische Zeitung und das Göttinger Tageblatt

1986–90

studiert Germanistik, Philosophie und Journalismus (Fotografie) an der Georg-August-Universität, Göttingen

1990–2002

arbeitet als Fotografin für die European Press agency (epa), Frankfurt/Main

Ab 1992

berichtet über den Bürgerkrieg in Kroatien, Bosnien und im Kosovo

1999

erhält den Fuji European Press Award

2000

Auszeichnung der American Press Photographers' Association

Ab 2002

feste Fotografin für die Associated Press, Genf, Berichterstattung über Konflikte und Kriege, u.a. in Irak, Afghanistan, Libyen, Israel und Gaza

2005

erhält den Pulitzer-Preis für aktuelle Fotoberichterstattung

2005

erhält den International Women´s Media Foundation Courage in Journalism Award

2014

wird während einer Berichterstattung in Afghanistan erschossen