Christian Borchert
Einblicke in das Private
Das alltägliche Leben ist seit jeher ein beliebtes Motiv in der Dokumentarfotografie. Auch wenn das, was die Fotograf*innen festhalten, häufig zunächst unspektakulär erscheinen mag, entpuppt sich doch manche Arbeit später als aufschlussreiches Zeitzeugnis. So auch bei Christian Borcherts groß angelegter Serie „Familienporträts“, die mehr über das Familienleben in der DDR erzählt, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Die ersten Bilder entstanden zwischen 1983 und 1985, um ein soziologisches Buch über Familien in der DDR zu illustrieren. Da Borcherts besonderes Augenmerk schon lange dem Porträtieren von Menschen gegolten hatte, nahm er diesen Auftrag mit Begeisterung an und führte die Serie auch nach Erscheinen des Buches fort.
Er entschloss sich, die von ihm ausgewählten Familien in ihrem Zuhause abzulichten. Dabei ließ er sie selbst entscheiden, wo und wie sie sich für die Aufnahme aufstellen wollten. Er positionierte die Kamera jedoch immer so, dass auch der Wohnraum der Familien mit ins Bild rückte und somit Teil des Porträts wurde. Während sich einige Familien vor wandfüllende Bücherregale setzten oder um den hauseigenen Flügel gruppierten, entschieden sich andere für die buntgemusterte Wohnzimmertapete oder für den Herd in der Küche als Hintergrund. Die Vielfalt der Inszenierung spiegelt sich allerdings nicht in der von Borchert vermittelten Vorstellung von Familie wider – diese besteht stets ganz klassisch aus Mutter, Vater und Kindern.
In seinem umfangreichen Projekt verbindet Borchert die Ästhetik einer dokumentarischen Reportage mit der Herangehensweise einer soziologischen Untersuchung. Die Namen der rund 130 fotografierten Familien bleiben ungenannt, nicht aber ihre beruflichen Tätigkeiten. Neben Schlosser*innen, Maurer*innen und Fleischer*innen finden sich auf den Bildern auch Schauspieler*innen, Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen. Letztere zählten zu Borcherts persönlichem Umfeld ebenso wie zur Gesellschaft der DDR, auch wenn deren politische Vertreter*innen gern das Bild vom reinen „Arbeiter- und Bauernstaat“ kolportierten. Mit den in den Bildtiteln aufgeführten Berufsbezeichnungen aller seiner Protagonist*innen verweist Borchert auch darauf, dass in der DDR der 1980er Jahre – anders als in der damaligen Bundesrepublik – Frauen ebenso selbstverständlich in allen Berufssparten tätig waren wie Männer.
Nach dem Fall der Mauer blickte Borchert auf sein mit dem Alltagsleben in der DDR eng verbundenes fotografisches Werk zurück und fragte sich, was sich wohl im Leben der von ihm Porträtierten verändert haben mochte. Welche Auswirkungen hatten die weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüche auf deren Leben gehabt? Um diesen Fragen nachzugehen, nahm er das eigentlich schon abgeschlossene Projekt noch einmal auf und fotografierte zwischen 1993 und 1994 mehr als 80 Familien ein zweites Mal. Blickt man auf diese späteren Porträts, so lassen sich – abgesehen von neuen Frisuren und familiärem Zuwachs – jedoch nur wenige Unterschiede erkennen. Vielmehr zeigen sie: Das Private und die Gemeinschaft der Familie sind Orte der Beständigkeit.
Biografische Daten
1942
geboren in Dresden
1960 bis 1963
studiert Kopierwerktechnik an der Ingenieurschule für Filmtechnik in Potsdam-Babelsberg
ab 1970
arbeitet für fünf Jahre als Bildreporter für die Neue Berliner Illustrierte
1971 bis 1974
absolviert ein Fernstudium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig
ab 1975
arbeitet als freischaffender Fotograf
2000
stirbt in Berlin