Cristina de Middel
Nach den Sternen greifen
Der Traum, das Weltall zu bereisen, ist fast so alt wie die Menschheit. Anders als manch andere zunächst fantastisch anmutende Idee wurde sie am 12. April 1961 tatsächlich Wirklichkeit, als der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin als erster Mensch in einem Raumschiff die Erde in rund 300 Kilometer Höhe umrundete. Neben den bekannten Weltraumprogrammen der Großmächte USA und Sowjetunion gab es aber auch in anderen Ländern Ambitionen, am Wettlauf ins All teilzunehmen, so auch in dem vergleichsweise kleinen afrikanischen Staat Sambia. Der Naturwissenschaftler und Lehrer Edward Makuka Nkoloso verantwortete dieses ehrgeizige Projekt und gründete dafür 1964 die „Nationale Akademie für Wissenschaft, Weltraumforschung und Philosophie“. Er wollte Sambia unbedingt zum ersten Land machen, das zunächst den Mond und später auch den Mars erreichen würde. Hierfür rekrutierte er Astronaut*innen, die er mit ziemlich fragwürdigen Methoden auf ihren Einsatz vorbereitete. Zu ihnen zählte auch die 17-jährige Matha Mwambwa, die er gemeinsam mit zwei Katzen und einem christlichen Missionar in einer Kupferrakete auf den Mond schießen wollte. Die „Afronauten“, wie er sie nannte, sollten am 24. Oktober 1964, dem Tag der geplanten Unabhängigkeit Sambias von Großbritannien, ihre Anreise antreten. Dass die Mission scheiterte, lag wohl nicht nur daran, dass Mwambwa schwanger wurde. Offizielle Stellen des Landes beteuern bis heute, sie hätten Nkolosos Programm von Beginn an für eine unseriöse Spinnerei gehalten.
Die spanische Fotografin Cristina de Middel lässt mit ihrer gleichnamigen Serie „The Afronauts“ diese spektakuläre Geschichte wieder aufleben und begibt sich auf die Spuren des geplatzten Traums. Mit ihrer fiktiven Dokumentation des gescheiterten Raumfahrtprogramms nimmt sie die Betrachter*innen mit in leere Mondlandschaften, auf Raketen mit sambischer Flagge, zu Astronauten in Raumanzügen und bis in die vermeintliche Schaltzentrale. Ihre Fotografien entfalten dabei ein vergnügtes „Was wäre wenn“-Szenario. Ihre farbenfrohen Bilder erzählen von den Ambitionen eines Landes, das sich im Aufbruch zur Unabhängigkeit befand. Mit der Kombination aus inszenierten Aufnahmen und echten ebenso wie fiktiven Dokumenten lässt de Middel die Grenzen zwischen Illusion und Wahrheit bewusst verschwimmen. Sie illustriert fotografisch ein Ereignis, das nicht nur nie dokumentiert wurde, sondern so auch nie stattgefunden hat. Dabei lässt sie ihrer Phantasie freien Lauf und entwickelt eine große Bandbreite an Motiven, die von weiten Blicken über sandige Krater und in den blauen Himmel bis hin zu kleinen Details der bunten Raumanzüge reicht.
Mit einer gehörigen Prise Ironie betont Cristina de Middel die Behelfsmäßigkeit des Raumfahrtprogramms und dessen technischer Ausstattung. Doch sie vermittelt auch den Stolz und die Hoffnung eines noch jungen Landes, das im Begriff war, sich von einer Kolonialmacht zu lösen. Schließlich untersucht sie in den „Afronauts“ auch das Verhältnis der Fotografie zur Wahrheit sowie das unerschöpfliche erzählerische Potenzial des Mediums. Jenseits der Fakten eröffnet Cristina de Middel den Blick in eine Welt, in der die Realität verrückter ist als jede Fiktion.
Biografische Daten
1975
geboren in Alicante, Spanien
2000
schließt Masterstudium der Fotografie an der Universität Oklahoma, USA ab
2001
schließt Masterstudium der freien bildenden Kunst an der Polytechnischen Universität Valencia, Spanien ab
2002
schließt postgraduales Studium des Fotojournalismus an der Autonomen Universität Barcelona, Spanien ab
2012
ausgezeichnet mit dem Photo Folio Review beim the Rencontres de la Photographie in Arles, Frankreich
2012
veröffentlicht „The Afronauts“ in Madrid, Spanien
2013
erhält den Infinity Award für ihre Publikation „The Afronauts“ vom International Center of Photography in New York, USA
2013
nominiert als Finalistin für den Deutsche Börse Photography Prize
2019
wird Associate Mitglied bei der Agentur Magnum Photo Paris
lebt in Brasilien