Daniel Castro Garcia
Die Leben der Anderen
Am 19. April 2015 verunglückte auf dem Mittelmeer ein Boot mit über 750 Menschen an Bord. Fast alle Passagiere starben. Die Opfer, Geflüchtete aus Libyen, waren auf dem Weg nach Europa – in der Hoffnung, dort ein besseres Leben zu finden. Es war in jenem Jahr nicht das erste Bootsunglück, das zahllose Menschenleben kostete, und es blieb auch nicht das letzte.
Nicht nur die Katastrophe selbst hat den spanisch-britischen Fotografen Daniel Castro Garcia tief bestürzt, sondern viel mehr noch die zynische Presseberichterstattung über das Ereignis. Als Kind spanischer Einwanderer fühlte er sich insbesondere von der Tatsache getroffen, dass die Geflüchteten meist nur als eine anonyme Masse dargestellt wurden. Dass hinter jedem toten Menschen ein persönliches Schicksal stand, schien niemanden zu interessieren. Daniel Castro Garcia fasste an diesem Tag im April 2015 den Entschluss, sich selbst ein Bild von der Situation der Geflüchteten zu machen und ihnen – soweit möglich – ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Für dieses Vorhaben bereiste er verschiedene Orte in Europa, die von der zunehmenden Menge Flüchtender besonders betroffen waren: die griechische Insel Lesbos, der „Dschungel von Calais“ an der Küste Frankreichs und die sizilianische Stadt Catania. An jedem dieser Orte offenbarten sich die Gefahren, Herausforderungen und Schwierigkeiten, die die Menschen an ihrem ersten Berührungspunkt mit dem europäischen Kontinent erwarteten. Castro Garcia portraitierte viele von ihnen und ließ sich ihre Geschichten erzählen.
Das Thema sollte ihn nicht mehr loslassen. Die Not dieser vielen Menschen fotografisch festzuhalten genügte Castro Garcia nicht mehr – er wollte helfen. Und so entschloss er sich zwei Jahre später, nach Sizilien zurückzukehren und dort in einem Aufnahmezentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in der abgelegenen Provinz Enna, einer der ärmsten Regionen Italiens, als Betreuer zu arbeiten; Castro Garcia blieb bis zur Schließung der Einrichtung im Jahr 2019. Die dort lebenden Teenager hatten alle eine bewegte Flucht hinter sich. Nun steckten sie fest an einem Ort, der nicht ihr Zuhause war und wahrscheinlich auch nicht ihre neue Heimat werden würde. Durch die intensive Zusammenarbeit mit ihnen wurde Castro Garcia schnell zu einer vertrauten Bezugsperson. Dies ermöglichte ihm auch, sehr persönliche Portraits von den jungen Männern zu machen und sie darin so zu zeigen, wie sie sich selbst gern sehen wollten. Auf diese Weise entstand die einfühlsame Serie „I Peri N’Tera“, deren Titel an ein sizilianisches Sprichwort angelehnt ist, das als Warnung für Träumer dient, „mit den Füßen am Boden“ zu bleiben.
Mit seiner Arbeit beleuchtet Daniel Castro Garcia die vielschichtigen und oft traumatischen Auswirkungen von Migration auf das Individuum. Seine Bilder setzen dort an, wo die meisten Pressebilder aufhören. Während diese meist nur die Fluchtsituationen darstellen, interessiert er sich für das Ankommen und für das, was dann folgt. Seine poetischen Motive werden dabei zu Sinnbildern für die Hoffnungen, die allzu oft von der harten Realität – von Ungewissheit, Armut, Ausgrenzung und Rassismus – zerstört werden.
Zu diesem Künstler gibt es ein Video in unserer Mediathek.
Biografische Daten
1985
geboren in Oxford, Großbritannien
Studium am University College London, Großbritannien
2017
erhält den W. Eugene Smith Grant in der Kategorie Humanistic Photography
2017
erhält den British Journal of Photography Award
2021
wird für das Talents Programm des Fotografiemuseums Amsterdam Foam ausgewählt