Evelyn Hofer
Arrangierte Natürlichkeit
Als der ehemalige Grubenjunge August Sander Ende der 1920er Jahre sein opus magnum „Menschen des 20. Jahrhunderts“ in Teilen und unter anderem Titel veröffentlicht, ahnt kaum jemand, dass seine Gruppen- und Einzelporträts einmal als eine der wichtigsten Arbeiten in die Fotografiegeschichte eingehen würden. Die Modernität seines Projekts und zugleich die altmodische Monumentalisierung seiner Porträtierten nach einer in Stände geordneten Gesellschaft haben ihn zu einem unübersehbaren Einfluss für spätere Fotografen von Diane Arbus bis Alec Soth werden lassen. Was all diese Künstler*innen miteinander vereint, ist die gekonnte Verbindung von fotografischer Inszenierung und zwanglosem Umgang mit den Porträtierten zum Schutz ihrer individuellen Eigenschaften und Gesten.
Es ist jene feine Spannung zwischen der lenkenden Hand der Bildregie und der Freiheit des Individuums, die auch in den Porträts von Evelyn Hofer sichtbar wird: Will der*die Porträtierte lachen oder ernsthaft dreinblicken, die Arme verschränken oder lieber entspannt am Körper herabhängen lassen? Kinder ebenso wie Männer und Frauen unterschiedlicher Berufsgruppen und sozialer Milieus hat die in Europa und Amerika arbeitende Fotografin für Magazine wie Vogue, New York Times Magazine und GEO vor ihre Kamera geholt. Für verschiedene Buchprojekte von Schriftstellern entwickelte Hofer außerdem umfangreiche fotografische Stadtporträts, unter anderem in Dublin, Florenz, London, New York und Washington.
Sie beherrschte neben den Porträts auch die anderen großen Genres Landschaft, Interieur und Stillleben und arrangierte Blumen und Obst oft ganz ähnlich wie sie die Menschen in ihren Porträts in Szene setzte. In ihrer Bildsprache mischt sich ein ausgeprägter Sinn für Form, Farbe und Raum; zugleich hat sie stets den Respekt vor dem „natürlichen“ Lebensraum der Menschen gewahrt. Ob Bolzplatz, Straße oder Park: Den Menschen, die Hofer vor ihre Großbildkamera mit Stativ und Dunkeltuch holte sieht man an, dass sie sich in ihrer gewohnten Umgebung befinden.
Und so scheint sich der Kreis von den von Sander fotografierten Menschen der Weimarer Republik bei den von Evelyn Hofer entdeckten Menschen wieder zu schließen: Wie die Spazierstöcke und gestärkten Kragen der Jungbauern oder der Rührstock und der Schüssel des Konditormeisters bei Sander präsentieren sich Hofers Protagonist*innen selbstbewusst mit Kniestrümpfen, Fahrrad, Fußballtrikots und Polizeimotorrad – unspektakuläre Attribute des Alltags, die ihren Zauber erst im Bild entfalten.
Biografische Daten
1922
geboren in Marburg
1933
Emigration mit der Familie nach Madrid
1939
Emigration in die Schweiz; besucht dort die École international de Genève und lernt in Zürich sowie Basel zu fotografien, später mit Privatunterricht bei Hans Finsler in Zürich
1942
Umzug mit ihrer Familie nach Mexico
1946
Umzug nach New York City
1947
Beginnt als freiberufliche Fotografin für u.a. Harper’s Bazaar und Vogue zu arbeiten
Frühe 1960er
Wird eine der ersten künstlerischen Fotografen, die Farbfilme nutzen und im Dye transfer Verfahren Abzüge erstellen
1994
Erste Retrospektive im Musée de l'Elysée, Lausanne, Schweiz
2009
stirbt in Mexico City, Mexico