Geert Goiris
Traumatischer Realismus
In den 1960er und 1970er Jahren gab es viele Vorstellungen davon, wie die ferne Zukunft – das Jahr 2000 zum Beispiel – einmal aussehen könnte. Filmemacher*innen, Künstler*innen und Architekt*innen schufen mit unglaublicher Kreativität Werke, die ihrer Zeit weit voraus sein sollten und manchmal auch waren. Aus heutiger Sicht wirken viele davon dennoch eher rührend. So auch das 1968 vom finnischen Architekten Matti Suuronen entwickelte „Futuro“. In Anlehnung an ein Ufo baute er aus leuchtendgelbem Plastik den Prototypen eines Wohnhauses, das seiner Vision von Modernität entsprach und in Serie produziert werden sollte. Die gewünschte Nachfrage blieb jedoch aus, keine hundert Exemplare wurden gebaut; das erste Futuro liegt heute abseits der Zivilisation mitten in einem finnischen Wald.
Es zählt zu den Objekten, die der belgische Fotokünstler Geert Goiris in den vergangenen Jahren fotografiert hat. Ebenso wie das ehemalige Gebäude des Ministeriums für Transportwesen in Tiflis, Georgien. Auch dies ein ambitioniertes architektonisches Projekt, bei dem mit kreuz- und quergeschichteten massiven Betonriegeln versucht wurde, Funktion auf die Form zu übertragen. Wie das Futuro erscheint es uns in Goiris Bildern als Ruine. Doch es geht ihm in seinen Arbeiten nicht darum, gescheiterte Utopien zu fotografieren. Sein Anliegen ist vielmehr, Gegenstände so darzustellen, dass sie etwas Lebendiges, fast Menschliches bekommen. Goiris betont den Anachronismus zwischen Objekt und Umgebung. Das Futuro ebenso wie das Ministerium scheinen irgendwie zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein – einsam, verloren und ihrer Bedeutung beraubt, aber mit enormer physischer Präsenz erleben wir beide in seinen Bildern. Ebenso das auf einer weiten Wiese vor sich hin dösende Rhinozeros im Nebel, das Goiris in einem Safaripark fand. Oder das in seinem Heimatort in grünes Plastik gehüllte riesige Etwas, von dem nicht einmal er weiß, was sich darunter verbarg.
Goiris’ Interpretationen der Momente, in denen er auf diese eigentümlichen Objekte gestoßen ist, stimulieren unseren Blick und unsere Assoziationen, gerade weil sie uns keine Geschichte dazu erzählen. „Traumatischen Realismus“ nennt Goiris diese Herangehensweise, „weil Realität und Fiktion sich hier treffen, weil das Vertraute und Bekannte eine fremdartige Präsenz bekommen“. Geert Goiris’ Bilder lassen uns erkennen, dass die Wahrnehmung von Realität immer auch von unserer eigenen Fantasie durchzogen ist – und von den Bildern, die wir in uns tragen.
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Biografische Daten
1971
geboren in Bornem, Belgien
1989-1993
studiert Fotografie an der Sint-Lukas Hochschule für Kunst und Design, Brüssel, Belgien
1993-1995
studiert im Fachbereich für Fotografie, Film und Fernsehen an der Akademie der Darstellenden Künste, Prag, Tschechische Republik
1997-2002
Postgraduiertenstudium an der Hochschule der Bildenden Künste, Antwerpen, Belgien
2003
Dozent an der Sint-Lukas Hochschule für Kunst und Design, Brüssel, Belgien
lebt in Antwerpen, Belgien