Guy Tillim
Avenuen der Träume
Wenn der Zahn der Zeit nur lange genug nagt, treten Fotografien wie Ruinen als materielle Zeugen ihrer eigenen Verfallsgeschichte auf. Während vor allem fotografische Abzüge mit dem Voranschreiten der Zeit oft ihre farbliche Intensität einbüßen, sind Abnutzung oder gar Verfall von Gebäuden Indizien für das Alter des verbauten Materials. Dieser Hinweis auf die Endlichkeit aller Dinge birgt bisweilen eine geheimnisvolle ästhetische Kraft. Manch einem erscheinen die altersschwachen Gebäude darüber hinaus als Marksteine historischer Entwicklungen.
Der aus Johannesburg stammende Guy Tillim kennt die Konventionen moderner Bildmedien sehr genau. Als ehemaliges Mitglied von Afrapix, einem Kollektiv südafrikanischer Fotoreporter*innen, und freier Bildjournalist für große Presseagenturen lieferte er themenbezogenes Bildmaterial. Nach einigen Jahren kehrte er jedoch der konventionellen journalistischen Berichterstattung den Rücken, um seiner Arbeit mehr inhaltliche Tiefe und eine neue ästhetische Richtung zu geben. Anstatt wie zuvor je nach Auftragslage bestimmte Themen zu illustrieren und jene Bilder zu liefern, die er den von ihm aufgesuchten Orten geradezu „überstülpen" musste, gelang ihm die Kehrtwende: Tillim schuf von nun an Fotografien, die seinem persönlichen Blick auf die Welt entsprachen und in denen seine Motive statt einer konfektionierten eine ihnen eigene Stimme erhalten sollten. Dieser Verzicht auf den Filter konventioneller Narrative führte zwangsläufig zu bedeutungsoffenen Szenerien, die sich gekonnt dem Diktat der Eindeutigkeit entziehen.
Seine Serie „Avenue Patrice Lumumba" trägt den Namen des bis heute als Held verehrten, ersten frei gewählten Premierministers des gerade von der Kolonialmacht Belgien unabhängig gewordenen Kongo im Titel und deutet damit bereits die den Bildern innewohnende leise Melancholie an. Lumumba, der im Januar 1961, nur Monate nach seiner Wahl – unterstützt von den USA und Belgien – von politischen Widersachern exekutiert wurde, steht auch stellvertretend für die tragische Geschichte eines bis heute in Konflikten, zersetzenden Handelsdeals oder lähmender Abhängigkeit gefangenen Kontinents. Die in den Fotos präsenten Bauwerke aus den 1960er und 70er Jahren, die Tillim mal im Kongo, mal in Ghana, Benin, Angola, Mosambik oder in Madagaskar fand, treten als steinerne Zeugen einer überwundenen Vergangenheit auf. Trotz des geschäftigen Treibens auf den Straßen scheint die Welt seiner Fotografien von einem sonderbaren Stillstand befallen. Allein die Spuren der Umnutzung und Auflösung legen sich wie aktive Zeichen einer kulturellen Neuinterpretation über die Bilder.
Vielleicht schätzt Tillim auch deshalb die Totale in „Avenue Patrice Lumumba" so sehr, weil die Bildgröße einen Blick auf die Welt freigibt, der innerhalb des gewählten Ausschnitts stets mehr zulässt als ausklammert. Zugleich lässt sie Raum für die Fantasie der Betrachter*innen, der sich auf eine Reise durch die – wie Tillim es selbst formuliert – „Avenuen der Träume" begibt.
Biografische Daten
1962
geboren in Johannesburg, Südafrika
1986–1994
Arbeit als Fotograf in Zusammenarbeit mit dem Afrapix Kollektiv
2004
Daimler Chrysler Award for South African Photography
2017
HBC Award der Fondation Henri Cartier-Bresson
lebt in Vermaaklikheid, Südafrika