Hsu-Pin Lee
Die subtilen Spuren der Katastrophe
Taiwan, von portugiesischen Seefahrer*innen einst „ilha formosa", die schöne Insel, genannt, war während seiner wechselhaften Geschichte zahlreichen Bedrohungen ausgesetzt. Die imposante Landschaft der Insel zwischen südchinesischem Meer und Pazifik kann leicht darüber hinwegtäuschen. Tatsächlich leben die etwa 23 Millionen Einwohner*innen des Inselstaates, dessen offizieller Name „Republik China" lautet, jedoch in konstanter Gefahr. Da ist auf der einen Seite das permanente Erdbeben- und Unwetterrisiko und auf der anderen die – je nach politischer Stimmungslage – mehr oder weniger präsente militärische Bedrohung durch das Nachbarland, die Volksrepublik China. Gerade einmal 160 Kilometer ist Taiwan von dessen südöstlicher Küste entfernt und sieht sich seit dem Ende des Chinesischen Bürgerkriegs 1949 selbst als politischer Gegenspieler des kommunistischen Nachbarn, wird aber auch von diesem als solcher wahrgenommen. Derweil treibt – unberührt vom Zeitgeschehen – die Tektonik ihr uraltes Spiel mit den Erdplatten. Sie sorgt für regelmäßige Erdbeben und dafür, dass die Insel jedes Jahr um einige Zentimeter angehoben wird.
Tatsächlich waren es eine gewaltige Naturkatastrophe und die darauf folgende Darstellung in den Fernsehnachrichten und sozialen Medien, die den taiwanesischen Fotografen Hsu-Pin Lee zu seiner Serie „Desastrous Landscapes" bewegte. Als ob er zu diesen ewig gleichen und für den schnellen Konsum gedachten Bewegtbildern einen visuellen Gegenentwurf liefern wollte, machte er sich 2010 mit dem Fahrrad und seiner Kamera auf in den Distrikt Namasia in Zentral-Taiwan. Hier hatte ein Jahr zuvor der Taifun „Morakot" gewütet, der so viel Niederschlag mitbrachte wie kein Unwetter in Taiwan jemals zuvor und den gesamten Süden der Insel mehrere Tage lang mit unglaublicher Zerstörungskraft traf: Überflutungen, entwurzelte Bäume, Erdrutsche, abgedeckte Häuser, zahlreiche Verletzte und Vermisste und fast 500 Tote – das war die traurige Bilanz.
Lee stellt sich mit seinen Arbeiten nicht nur stilistisch den flüchtigen Katastrophenbildern der Massenmedien entgegen. Er verlangsamt sein Vorgehen bewusst, sodass auch Form und Inhalt auf raffinierte Art und Weise den populären Bildkonventionen widersprechen: Nach einer etwa einjährigen Vorbereitungszeit arbeitete er ausschließlich mit analogem Filmmaterial und seiner großformatigen Plattenkamera, um anschließend jedes einzelne Bild auf Büttenpapier zu drucken. Das Ergebnis sind auf den ersten Blick klassische Landschaftsansichten, deren warmer Sepiaton und fein gerippte Papierstruktur der gesamten Serie eine ausdrucksstarke Geschichtlichkeit verleihen. Dieser Kunstgriff verstellt bei flüchtiger Betrachtung den Blick auf die in den Bildern präsenten Spuren der Zerstörung. Hier ein auf freier Fläche liegendes, scheinbar intaktes, von der Gewalt des Sturms fortgetragenes Hausdach, dort Steingeröll und von der Flut ausgewaschene Flussbiegungen. Allesamt sind sie stumme Zeugen der Katastrophe von 2009.
Biografische Daten
1969
geboren in Tainan City, Taiwan
2004
Master der Fotografie an der Academy of Art University, San Francisco, USA
2009
Dekan des Fotoaura Instituts für Fotografie, Tainan
lebt in Tainan City