Jürgen Nefzger
Hexagone
„Villes nouvelles“ heißen in Frankreich die seit Mitte der 60er Jahre entstandenen Planstädte, die innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gestampft wurden, um Ballungszentren zu entlasten. Vor allem um die Stadt Paris, für die man bis zum Jahr 2000 ein Bevölkerungswachstum von bis zu 16 Millionen Einwohner*innen prognostiziert hatte, entstanden einige solcher Trabantenstädte. Auf kaum besiedelten und vorwiegend landwirtschaftlich genutzten Flächen wurden schnell und billig Siedlungen für Pendler*innen hochgezogen – ohne Historie und Ortskern, aber mit Hunderten von gleichförmigen Häuschen und erfundenen Ortsnamen wie Marne-la-Vallée, Cergy-Pontoise oder St. Quentin en Yvelines. Wie gravierend diese Eingriffe in die Landschaft sind, sehen wir in der Serie „Hexagone“ des deutschen Fotografen Jürgen Nefzger. Man mag sich fragen, wer wohl so wohnen möchte, doch das Arbeitsangebot der französischen Metropole, eine großzügige staatliche Förderung sowie das beruhigende Wissen, unter seinesgleichen zu leben, haben Hunderttausende in diese Siedlungen gelockt.
Dass diese Art von Vorortlandschaften nicht allein ein französisches Phänomen sind, zeigen uns Bildserien wie Bill Owens 1973 veröffentlichtes Foto-Essay „Suburbia“. Auch Jürgen Nefzger hat sich über einen langen Zeitraum hinweg mit dem Blick eines Fremden dem vertrauten Umfeld in seiner Wahlheimat Frankreich gewidmet. Während Owens sich vor allem auf die Bewohner von Livermore, Kalifornien konzentrierte, steht für Nefzger die vom Menschen geprägte Kulturlandschaft im Vordergrund. Er fotografierte nicht nur im Umfeld von Paris, sondern weit darüber hinaus, in ganz Frankreich, von den Französ*innen aufgrund seiner sechseckigen Form auch „L’Hexagone“ genannt.
Nefzgers Aufnahmen einer mit mangelndem ästhetischen Empfinden durchgeführten Stadt- und Raumgestaltung schärfen unseren Blick für das Unscheinbare. Dabei wahrt er die Balance zwischen Aussage und Bildgestaltung. Ausgefeilte Kompositionen und der sehr bewusste Einsatz von Licht und Farbe –soweit in den Bildern vorhanden – lassen das Betrachten seiner Fotografien trotz ernstem Anliegen zu einem sinnlichen Erlebnis werden. Nicht brutal oder entblößend sollen sie sein, sagt Nefzger, aber doch den Blick auf das lenken, was wir nicht mehr sehen oder sehen wollen. Jürgen Nefzger zeigt uns das wenig schmeichelhafte Porträt einer Gesellschaft, deren Fortschrittswahn das immer schnellere Verschwinden unserer natürlichen Lebensgrundlagen mit sich führt. Es lässt uns auch ahnen, wie diese in Zukunft aussehen könnte.
Biografische Daten
1968
geboren in Fürth, Deutschland
1991
Umzug nach Frankreich
1994
Studienabschluss an der Staatlichen Französischen Hochschule für Fotografie, Arles, Frankreich
Seit 2008
Professor für Fotografie an der Hochschule der Künste in Clermont-Ferrand, Frankreich
lebt in Nizza und Clermont-Ferrand, Frankreich