Malick Sidibé
Die sechziger Jahre
In Deutschland sind die sechziger Jahre ein Synonym für Protest. Die Nachkriegsgesellschaft war erzkonservativ und prüde, „nur nicht auffallen“ lautete die Bürger*innenpflicht. Bis eine neue Generation kam und in den Staub trat, was bis dahin lieb, teuer und tugendhaft war. Wie alle echten Revolten war es eine Revolte der Jugend. Man trug Minirock, Schlaghose, Langhaarfrisur, propagierte freie Liebe, hörte Rock ’n’ Roll und zog zur Demonstration auf die Straße. Der Protest erfasste alle Bereiche von Kultur und Gesellschaft; und mindestens genauso wichtig wie konkrete Neuerungen war die Suche nach einer eigenen Identität.
Auch in Mali ging in den sechziger Jahren ein Ruck durch die Gesellschaft. Das Land, bis dahin eine französische Kolonie, war gerade unabhängig geworden. Die politische Befreiung inspirierte eine selbstbewusste Jugend ebenfalls zur Selbstfindung und zu einem neuen Lebensgefühl. Doch in weiten Schichten äußerte sich der Drang nach Freiheit und nationaler Selbstbestimmung nicht etwa durch ein Wiedererwachen der ursprünglichen afrikanischen Kultur, die so lange unterdrückt worden war, sondern überwiegend als Imitation der Kultur der europäischen Kolonisatoren. Malick Sidibés Fotografien sind vom sozialen und historischen Kontext in seiner Heimatstadt Bamako nicht zu trennen, sie geben Einblick in die Identitätssuche der malischen Jugend und dokumentieren ihr Schwanken zwischen afrikanischer Tradition und westlicher Moderne.
Wie in fast allen Gesellschaften gelten in Mali Frisur, Kleidung, Schmuck und bestimmte Gegenstände als Statussymbole. Auf Malick Sidibés Bildern tragen deshalb Frauen stolz ihre Frisuren und Kostüme, Männer zeigen sich gern in Anzug und Krawatte, Hippiehemd und Schlaghose, auf dem Motorrad oder mit einer tragbaren Stereoanlage. Viele dieser Statussymbole waren Requisiten aus Sidibés Fotostudio, die den Porträtierten gar nicht gehörten. Sie unterstreichen den Wunsch der Menschen nach Prestige und Bekanntschaft mit der westlichen Welt.
Malick Sidibé selbst sah sich in den sechziger Jahren übrigens weder als Chronist eines kulturellen Wertewandels noch als Künstler. Er war selbstständiger Fotograf, der von der Arbeit in seinem Fotostudio leben musste. Ähnlich wie sein älterer Kollege, Seydou Keïta, erklärte er: „Ich habe meine Kunden so fotografiert, dass sie mit ihrem Bild zufrieden waren.“
Biografische Daten
um 1935
geboren in Soloba, Mali
1955
geht bei dem französischen Fotografen Gerard Guillat in die Lehre
1962
eröffnet eigenes Fotostudio in Bamako, Mali
2007
wird als erster Fotograf auf der Biennale von Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet
2016
stirbt in Bamako, Mali