Mike Mandel
Menschen auf Rädern
Das Auto gehört in der Selbstdarstellung der USA zum „American Way of Life" wie die Sehnsucht nach Freiheit und das Streben nach Glück. Der eigene Pkw kann vieles sein: praktisches Transportmittel, aber auch Statussymbol und Sinnbild von Kraft und Geschwindigkeit – oder schlicht ein etwas zu klein geratener Wohnraum, in dem der*die durchschnittliche Autofahrer*in in den USA mittlerweile mehr als 290 Stunden pro Jahr verbringt.
Der Konzeptkünstler Mike Mandel machte Anfang der 1970er Jahre seine amerikanischen Mitmenschen samt ihrer omnipräsenten Fahrzeuge zum Thema der fotografischen Serie „People in Cars". Der damals Zwanzigjährige stellte sich an einem späten Nachmittag im San Fernando Valley, nördlich von Los Angeles, an eine belebte Straßenkreuzung und fotografierte Menschen die – allein, zu zweit, in kleinen Gruppen, wohlgemut oder verdrossen – irgendeinem Ziel entgegensteuerten.
Das gewählte Sujet ist in der Fotografie keine Seltenheit. Allerdings entfalten sich die spezielle räumliche Nähe zum und die Interaktionen der Fahrzeuginsass*innen mit dem Fotografen selten auf so eindringliche Art und Weise wie bei Mandel. Der junge Mann aus Los Angeles bewahrte sich von Beginn seiner künstlerischen Laufbahn an eine gesunde Portion Ironie und Abstand zu den „heiligen Kühen" der Kunst- und Fotografiegeschichte. Das Fahrzeug steht bei Mandel weder als Technik- oder Designobjekt noch als folkloristisch aufgeladenes Fabelwesen einer vom Pferd auf den Verbrennungsmotor umgestiegenen einstigen Pioniergesellschaft im Mittelpunkt. Im Gegenteil: Das Automobil ist in seinen Bildern zwar vorhanden, tritt aber in seiner äußeren Form kaum in Erscheinung – viel lieber geht Mandel mit seinem Weitwinkelobjektiv nah an die Insass*innen heran, um sie durch die zumeist geöffneten Fenster hindurch zu fotografieren. Der Künstler blickt von außen in das im Strom des Verkehrs treibende Innenleben des Fahrzeugs – in einen privaten Raum inmitten der Öffentlichkeit.
Inzwischen ist die Einführung autonom fahrender Automobile nur noch eine Frage der Zeit. Zugleich können viele Fotografen wegen der erhöhten Sensibilität vieler Menschen gegenüber dem Recht am eigenen Bild nicht mehr so selbstverständlich wie früher Aufnahmen im öffentlichen Raum machen. Vor diesem Hintergrund wirken Mandels Bilder mit den zumeist gut gelaunten, nur hier und da abweisend wirkende Autofahrer*innen wie Fenster in eine weit entfernte Vergangenheit. So erscheint der entspannte Blick der Mutter, der sowohl dem Fotografen als auch den Jungen auf der Rückbank gilt, heute wie eine aus der Zeit gefallene Geste subtiler Komplizenschaft. In Mandels „People in Cars" tritt das in den Fotografien bewahrte Bildpersonal gleich in doppelter Funktion auf: als Protagonist*innen einer konkreten, fotografisch erfassten Szene und als abstrakte Zeugen einer Vergangenheit, die uns in der Gegenüberstellung mit der eigenen Gegenwart einen deutlichen Hinweis auf das dramatische Voranschreiten der Zeit liefern.
Biografische Daten
1950
geboren in Los Angeles, USA
1972
Studium der Philosophie an der California State University, USA
1974
Studium der Fotografie am San Francisco Art Institute, USA
1997
Fulbright Fellowship
lebt in Watertown, Massachusetts, USA