Sibylle Bergemann
Konditionierte Fotografie
In der ehemaligen DDR hatte die bildende Kunst eine wesentliche Funktion in der Selbstdarstellung der sozialistischen Gesellschaft. Der staatlich verordnete Sozialistische Realismus propagierte eine vom Arbeiter*innenethos geprägte Wirklichkeit. Kunst sollte verständlich sein, zu didaktischen Zwecken instrumentalisierbar. Konnte sich ein*e Künstler*in in diesem Umfeld entfalten?
Sibylle Bergemann hat es geschafft – soweit es möglich war. Ihre Fotografien konzentrieren sich auf leise atmosphärische Momente, nicht auf starke Symbole und große Gesten – in der DDR, wo sie aufgewachsen ist und viele Jahre gearbeitet hat, war das keine Selbstverständlichkeit. Der Staat habe kaum Einfluss auf ihre Arbeit genommen, sagt Sibylle Bergemann im Rückblick: „Ich habe immer frei gearbeitet, mich um die Zensur nicht geschert.“ Sibylle Bergemann fotografierte für Magazine und Zeitungen mit kulturellem Anspruch, die sich bewusst von ideologiekonformen Publikationen unterschieden. Der gängigen Bildsprache, geprägt von angeordnetem Optimismus, konnte sie sich so widersetzen. Ihr Ausweg aus den inhaltlichen Denkverboten waren die Modefotografie und Alltagsaufnahmen ihrer Umgebung. In einem konditionierten Umfeld hat Sibylle Bergemann das Individuelle, das Skurrile und bisweilen auch Verrücktes aufgespürt; ihre Fotografien entdecken das Besondere im Alltäglichen – enthüllen es aber nie ganz.
28 Jahre lang wohnte Sibylle Bergemann mit ihrem Lehrmeister und Lebensgefährten Arno Fischer in Ost-Berlin, in einer Wohnung am Schiffbauerdamm, direkt an der Spree. Sie schaute auf den Grenzzaun, sah Fluchtversuche und Festnahmen, wurde Zeugin von Freiheitsdrang und staatlicher Restriktion. Ihre Wohnung wurde Anlaufstelle für Fotograf*innen aus aller Welt; nur sie durfte nicht weg. „Ich wollte reisen, das war ein Problem.“ Durch die Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler konnte sie alle zwei Jahre eine Studienreise beantragen, „ins nichtsozialistische Ausland“. So hat Sibylle Bergemann wiederholt ihre Heimat verlassen: zum Beispiel 1980, als sie zum zweiten Mal nach Paris durfte. Auf der Rückfahrt hielt der Zug in West-Berlin, aber Sibylle Bergemann stieg nicht aus: „Mich hielt die Verantwortung für meinen Mann, meine Tochter und unsere Freunde“. Sehnsucht und Melancholie sind nicht explizite Themen ihrer Arbeit – aber beides ist in Sibylle Bergemanns Fotografien präsent: „Ich hatte immer Fernweh.“
Die Fotografien von Sibylle Bergemann sind weder propagandistisch noch regimekritisch. „Ich habe auch kritische Bilder gemacht – aber das war nicht mein Hauptthema. Ich war keine Widerstandskämpferin. Ich widmete mich Randthemen.“ Ihre Aufnahmen zeigen Ausschnitte aus einer ostdeutschen Wirklichkeit – und erzählen ganz nebenbei Geschichten von Hoffnungen und gescheiterten Träumen.
Biografische Daten
1941
geboren in Berlin
1966
fotografische Ausbildung bei Arno Fischer
seit 1967
freiberufliche Fotografin, hauptsächlich für Sonntag. Magazin für Kunst und Literatur
1970-1995
Portrait- und Modefotografin für das Modemagazin Sibylle
1991
Mitbegründerin OSTKREUZ – Agentur der Fotografen in Berlin
seit 1990
Publikationen in GEO, Die Zeit, Spiegel, Stern, New York Times Magazine, etc.
seit 1994
Mitglied der Akademie der Künste in Berlin
2010
stirbt in Gransee (Brandenburg)