Susan Meiselas
Mädchenfreundschaft
Die Übergangsphase von der Kindheit zum Erwachsenenalter war schon immer geprägt von Neugier, einem ausgeprägten Freiheitsdrang, dem Entdecken der eigenen Identität und dem Hinterfragen der äußeren Erscheinung, oftmals als Teil und im Dialog mit einer Gruppe gleichaltriger Freund*innen. Im Vergleich zu heute war dieser Prozess ebenso wie der pubertäre Alltag in den 1970er Jahren weitaus weniger von Konsum, mobiler Kommunikation oder der dauerhaften Aufsicht der Eltern gesteuert. Man traf sich meist spontan, vertrieb sich gemeinsam die Zeit im eigenen Viertel und ging wieder heim, wenn es Zeit fürs Abendessen war oder dunkel wurde. So auch die „Prince Street Girls", wie Susan Meiselas eine Gruppe von Mädchen aus ihrem New Yorker Viertel nach der gleichnamigen Straße nannte. Meiselas hatte ihr Studium in Visueller Erziehung gerade abgeschlossen, als sie 1975 ihr Apartment in der benachbarten Mott Street in Little Italy bezog. Viele Einwohner*innen des Viertels waren zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch italienischstämmig. Ihrem Wohnhaus gegenüber stand die Old St. Patrick's Cathedral – einer der Treffpunkte der Gemeinde, dem auch eine katholische Schule angeschlossen war.
Regelmäßig begegnete sie den Freundinnen, von denen viele auch miteinander verwandt waren, auf ihren Wegen durch das Viertel. Im Laufe der Zeit entwickelte sich aus der gegenseitigen Neugierde eine Freundschaft. Die Mädchen besuchten Meiselas in ihrem Loft, wenn diese nicht gerade auf Reisen war. Meiselas hörte ihren Geschichten zu und begleitete sie auf ihren Streifzügen durch die umliegenden Straßen oder auf ihren Ausflügen an den Strand. Mit ihrer Kamera hielt sie dabei das Treiben der Mädchen fest und beobachtete die wechselnden Konstellationen in der Gruppe, erste Schminkversuche, die sich verändernde Kleidung und das beginnende Interesse an Jungs. Obwohl sich die Mädchen dabei stets bewusst waren, dass sie fotografiert wurden, schien sie der Blick der vertrauten Fremden kaum zu irritieren oder einzuschüchtern. Auf diese Weise ist es Meiselas gelungen, mit ihrer Serie „Prince Street Girls" eine sehr persönliche, dynamische und authentische Porträtserie zu schaffen, in der sich das alltägliche und familiäre Miteinander während ihrer Begegnungen widerspiegelt. Ihre Fotografien erzählen vom Abenteuer des Erwachsenwerdens und den damit verbundenen Veränderungen ebenso wie von einer heute verschwundenen Unschuld im Umgang mit der Fotografie.
Als Meiselas, die 1976 Mitglied der Fotoagentur Magnum geworden war, Ende der 1970er Jahre nach Mittelamerika aufbrach, um die dortigen Konflikte zu fotografieren, wurden ihre Begegnungen mit der Gruppe immer seltener, obwohl sie hin und wieder rechtzeitig für eine Hochzeit oder einen Geburtstag zurück kehrte. Ihre Freundschaft mit Jojo, Dee, Lisa, Carol, Pina, Roe und Pebbles ist dennoch bis heute geblieben, auch wenn die Mädchen – mittlerweile längst erwachsene Frauen – alle das Viertel verlassen haben und nach Brooklyn, Staten Island oder New Jersey gezogen sind. Susan Meiselas, die noch immer das gleiche Apartment bewohnt, ist bis heute Gast auf all ihren großen Familienfeiern und hält weiterhin viele Wiedersehen fotografisch fest.
Biografische Daten
1948
geboren in Baltimore, USA
1970–1971
Studium am Sarah Lawrence College, New York und Studium der Kunsterziehung an der Harvard University
1976
wird Mitglied bei der renommierten Fotoagentur Magnum Photos Paris
lebt in New York City, USA