Thomas Kern
Erzählungen vom Krieg
Als 1991 der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach, war dem Schweizer Fotografen Thomas Kern sofort klar, dass er dort arbeiten wollte. Es gelang ihm, die Redaktion der renommierten Schweizer Monatszeitschrift DU als Auftraggeber zu gewinnen. Sein Ziel war nicht, möglichst schnell das Kriegsgeschehen zu dokumentieren, um damit tagesaktuelle Berichte zu begleiten. Thomas Kern wollte sich Zeit nehmen, um ein tiefer gehendes Verständnis dafür zu entwickeln, was mit diesem Land passierte. Einem Land in unmittelbarer Nähe, das plötzlich im Kriegszustand war. „Ich wollte nicht nur etwas über den Bosnien-Krieg aussagen. Ich wollte etwas darüber aussagen, was es für Menschen bedeutet, in einer solchen Situation zu leben. Wie gehen sie mental damit um?“, erklärt er.
Mehrere Monate reiste er durch die Kriegsgebiete, beobachtete die Menschen, sprach mit ihnen, lebte mit ihnen. Seine so entstandenen Arbeiten sind Dokumente von zeitloser Qualität; sie zeigen, wie der Krieg im Alltag seinen Platz findet und der Alltag seinen Platz im Krieg. Ohne technische Effekte oder ausgefallene Blickwinkel, sondern mit intuitiver Unmittelbarkeit erzählen sie davon, wie die Menschen versuchen, dem andauernden Ausnahmezustand Normalität abzutrotzen. Durch das Festhalten an Ritualen zum Beispiel. So wie die Betenden, deren Moschee zerstört wurde und die nun den Hof für ihre Gebete nutzen, auch wenn er voller Leergut und Schutt ist. Oder der Junge, der dank seiner Sammlung von Granaten und Geschossen zu einer lokalen Berühmtheit wurde. „Diese Szenen sprachen für sich und mussten nicht zusätzlich aufgeladen oder dramatisiert werden“, sagt Thomas Kern, „denn das hier war nicht weit weg passiert, sondern mitten in Europa, in einer Kultur, die uns sehr vertraut ist.“ Thomas Kerns Werke lassen nicht zu, dass wir Westeuropäer*innen denken, bei diesem Krieg habe es sich zwar um ein furchtbares Ereignis gehandelt, das aber uns nicht betrifft.
Mit der Zusammenstellung seiner Fotografien in Serien unterstreicht er, worum es ihm in seiner Arbeit geht. Wie bei einem Mosaik, in dem jedes Teil ein wichtiger Baustein ist. Dadurch wird aber auch deutlich, wie viele Aspekte dieses Krieges er nicht zeigen konnte, weil er nicht zur Stelle war oder weil sie einfach nicht visuell fassbar sind. Immer wieder hat er seine Rolle und Position als Fotojournalist hinterfragt. Und festgestellt: Das Kriegsgeschehen selbst konnte er mit seinen Bildern nicht verändern, wohl aber dessen Wahrnehmung.
Biografische Daten
1965
Geboren in Brugg, Schweiz
1984–1987
Ausbildung zum Fotograf
1987
Fotografieklasse der Zürcher Hochschule der Künste
Seit 1989
Tätigkeit als Fotojournalist für internationale Zeitschriften
1990
Mitbegründer der Fotoagentur „Lookat Photos“ in Zürich
Seit 1994
Tätigkeit als Dozent für Fotografie in der Schweiz und im Ausland
1996
World Press Award
lebt in Moeriken, Schweiz