Ulrich Wüst
Ein Blick für das Gebaute
Denkt man an die Architektur in der ehemaligen DDR, sind es vor allem die gigantischen Plattenbausiedlungen, die einem in den Sinn kommen. Mit ihrer schlichten und günstigen Kastenbauweise boten sie Platz für Dutzende Familien. Der Eindruck täuscht nicht, denn seit den 1970er Jahren wurden in der DDR zahlreiche neue Wohnviertel gebaut, um der herrschenden massiven Wohnungsnot entgegenzuwirken. Dabei mangelte es eigentlich nicht an Wohnraum, sondern vor allem an bewohnbarem Raum, denn die Straßenzüge vieler Innenstädte waren gesäumt von leerstehenden und maroden Häusern. Eine Sanierung der alten Bauwerke wäre nicht nur kostspielig und aufwändig gewesen, sondern entsprach auch nicht dem Selbstbild der DDR – eines Staates, der sich modern und dem Fortschritt zugewandt präsentieren wollte.
Beim Betrachten der „Stadtbilder“ von Ulrich Wüst lässt sich erahnen, wie die Städte in der DDR tatsächlich aussahen. Die zwischen 1979 und 1985 entstandene Serie zeigt das Land in allen Facetten – verfallende Altstädte, dörflich anmutende Stadtteile, zusammengezimmerte Lauben, aber eben auch die damals neu errichteten Plattenbausiedlungen. Seine Aufnahmen entstanden meist beiläufig, aber immer sorgfältig komponiert: Wenn er als freischaffender Fotograf für einen Auftrag unterwegs war, nutzte er die Pausen oder den Feierabend, um nach einem weiteren Motiv Ausschau zu halten.
Der analytische Blick des studierten Stadtplaners galt insbesondere den architektonischen und geometrischen Strukturen. Mal waren es auffällige Häuserfassaden, mal Laternen oder Treppengeländer, die für ihn zum formalen Gestaltungsmittel wurden. Einem Bühnenbildner ähnlich nutzte er diese Elemente sowie den gezielten Einsatz von Perspektive und Schattenwurf, um mit dem Vorhandenen ein ausgewogenes und in sich stimmiges Motiv zu schaffen. Innerhalb von nur wenigen Jahren entstanden auf diese Weise zahlreiche solcher „Stadtbilder“. Wüst zeigt keine idealisierte Landschaft, sondern mit recht nüchternem Blick die durch den Menschen und die Industrie veränderte Umgebung. Eine ähnliche Herangehensweise verfolgten auch die amerikanischen Fotografen der „New Topographics“, als sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts ihr Heimatland porträtierten. Allerdings mit dem Unterschied, dass Wüsts kühl erscheinende Betrachtungen nicht das eigene Unbehagen angesichts der Zumutungen solch einer Lebensumwelt verbergen.
Ulrich Wüst erzählt mit seinen Fotografien nicht nur vom baulichen Zustand der DDR in den 1980er Jahren, sondern öffnet auch den Blick für jene Architektur, die zunächst nicht besonders reizvoll oder interessant erscheint. Geleitet von der Idee, die eigene Wahrnehmung seiner Umgebung abzubilden, bedient er sich der Mittel des Dokumentarischen, lenkt aber gleichzeitig mit seiner Komposition den Blick auf das, was ihm wesentlich erscheint: die ästhetische Gestalt der Stadt.
Biografische Daten
1949
geboren in Magdeburg
1967 bis 1972
studiert Stadtplanung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar
bis 1977
tätig als Stadtplaner in Berlin
bis 1983
tätig als Bildredakteur in Berlin
seit 1984
arbeitet er als freischaffender Fotograf
lebt in Berlin